Wenn es zu viel wird: Was Frauen in Umbruchsphasen über Stress wissen sollten
Wenn wir von Stress sprechen, sprechen wir oft von einem Gefühl:
Druck. Überforderung. innere Anspannung.
Doch jenseits dieser Empfindungen lohnt sich ein genauerer Blick – vor allem, wenn wir verstehen wollen, warum wir auf bestimmte Situationen so reagieren, wie wir es tun. Und wie wir inmitten dessen handlungsfähig bleiben können.
Ein hilfreiches theoretisches Modell bietet hier der amerikanische Psychologe Richard Lazarus. Sein transaktionales Stressmodell beschreibt Stress nicht als feststehenden Zustand, sondern als dynamischen Prozess – eine Art innerer „Verhandlung“ zwischen den Anforderungen der Umwelt und den verfügbaren persönlichen Ressourcen.
Stress als Beziehung – nicht als Zustand
Im Zentrum des Modells steht die Annahme, dass Stress nicht automatisch durch ein Ereignis entsteht, sondern durch unsere individuelle Bewertung dieses Ereignisses. Diese Bewertung erfolgt in mehreren Stufen:
1. Primäre Bewertung
Unser Gehirn bewertet einen Reiz (ein Ereignis) in Sekundenbruchteilen:
Ist das hier eine Bedrohung für mein Wohlergehen?
Je nach Einschätzung wird der Reiz als irrelevant, positiv oder potenziell gefährlich eingestuft. Diese Bewertung geschieht meist unbewusst und ist eng mit früheren Erfahrungen, Prägungen und inneren Überzeugungen verknüpft.
2. Sekundäre Bewertung
Wenn wir den Reiz als bedrohlich erleben, folgt die Frage:
Habe ich ausreichend Ressourcen, um mit dieser Situation umzugehen?
Ein subjektives Ja kann zu einer aktivierenden Stressreaktion führen (Eustress) – also einer positiven Anspannung, die zur Bewältigung motiviert.
Ein Nein hingegen erzeugt Distress – also das Gefühl der Überforderung, das oft mit Hilflosigkeit, Angst oder Rückzug einhergeht.
3. Coping (Bewältigung)
Hier beginnt die bewusste Auseinandersetzung mit der Situation.
Welche Strategien stehen mir zur Verfügung?
Wie kann ich Einfluss nehmen – entweder auf das Problem selbst oder auf meine Reaktion darauf?
Coping – der bewusste Umgang mit innerem Ungleichgewicht
Der Begriff Coping bezeichnet alle bewussten und unbewussten Strategien, mit denen Menschen versuchen, belastende Situationen zu verarbeiten und ein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen.
Lazarus unterscheidet zwei grundlegende Formen:
• Problemorientiertes Coping
Ziel ist die direkte Veränderung der stressauslösenden Situation. → z. B. ein Gespräch führen, Informationen einholen, Entscheidungen treffen.
• Emotionsorientiertes Coping
Ziel ist die Regulation der eigenen emotionalen Reaktion auf die Situation.→ z. B. durch innere Umdeutung, Akzeptanz, Selbstberuhigung.
Beide Copingformen sind sinnvoll – je nach Situation und Kontext.
Wichtig ist dabei, dass Coping kein einmaliger Akt, sondern ein dynamischer Anpassungsprozess ist. Es geht nicht um Kontrolle, sondern um Gestaltungsspielräume im Inneren wie im Äußeren.
Ressourcen – das Fundament innerer Selbstwirksamkeit
Ob und wie Coping gelingt, hängt maßgeblich von den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Lazarus beschreibt Ressourcen als persönliche und soziale Kraftquellen, die helfen, Anforderungen zu bewältigen. Sie reduzieren die subjektiv empfundene Bedrohung und stärken das Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Innere Ressourcen können sein:
• Persönliche Stärken, Kompetenzen und Werte
• Positive Erinnerungen oder Lebenserfahrungen
• Glaube, Spiritualität, Resilienz
Äußere Ressourcen umfassen u. a.:
• Soziale Unterstützung (z. B. Freundschaften, Familie)
• Zeitliche und finanzielle Spielräume
• Strukturelle Bedingungen (z. B. Arbeitsplatzsicherheit, Lebensumfeld)
• Zugang zur Natur, Ruheorte, Schutzräume
Ressourcen sind nicht statisch. Sie verändern sich im Lauf des Lebens, können schwinden – aber auch aufgebaut werden. Entscheidend ist, ob sie im Moment der Krise subjektiv verfügbar und aktivierbar sind.
Vom Reiz über die Bewertung zur inneren Antwort – ein Alltagsbeispiel
Eine selbstständige Beraterin, Anfang fünfzig, bekommt eine E-Mail von einem langjährigen Kunden. Der Ton ist ungewohnt scharf. Es geht um eine vermeintlich unzureichende Leistung. Zwischen den Zeilen spürt sie Enttäuschung – vielleicht sogar Vorwurf.
Die Stressreaktion setzt sofort ein: ein stechendes Gefühl in der Magengegend, Enge im Hals, ein Impuls, sich zu rechtfertigen oder die Beziehung infrage zu stellen.
In der primären Bewertung empfindet sie: Das ist eine Bedrohung – für meinen Ruf, meine Arbeit, meine Sicherheit. Die sekundäre Bewertung fragt: Habe ich genug Kraft, um damit gut umzugehen? – zunächst fühlt es sich nach einem Nein an.
Doch dann erinnert sie sich an eine Fähigkeit, die ihr oft hilft: empathische Distanz. Eine innere Ressource, die sie sich über Jahre aufgebaut hat. Sie entscheidet sich also für eine emotionsbezogene Copingstrategie:
- Bevor sie antwortet, legt sie die Mail beiseite. Sie nimmt sich eine halbe Stunde für eine gedankliche Neuordnung:
- Was genau hat mich getroffen? Was gehört zu mir – was ist Projektion?
- Sie schreibt ihre erste, impulsive Reaktion auf – nur für sich. Dann atmet sie durch. Erst danach antwortet sie – ruhig, klar, zugewandt. Nicht aus reiner Defensive, sondern aus einer Position innerer Stabilität. Die Situation war unangenehm. Aber sie wurde nicht zur Krise. Weil sie entschieden hat, wie sie antwortet – und nicht nur zu reagieren.
Stress ist ein Spiegel – und eine Einladung
Das transaktionale Stressmodell zeigt:
Stress ist keine Schwäche.
Er ist ein Signal. Ein Spiegel innerer Bewertungen. Und eine Einladung, genauer hinzusehen:
- Was genau empfinde ich als bedrohlich?
- Welche inneren Geschichten laufen in mir ab?
- Welche Ressourcen stehen mir zur Verfügung – und wie kann ich sie jetzt nutzen?
- Wo darf ich loslassen? Und wo darf ich aktiv werden?
In diesem Verständnis wird Stress nicht nur „gemanagt“, sondern verstanden – als ein innerpsychischer Prozess, der Hinweise gibt: auf innere Spannungen, aber auch auf Entwicklungsmöglichkeiten.
Zwischen Reiz und Reaktion
In der Lebensmitte geraten viele Frauen in neue Spannungsfelder: beruflich, körperlich, biografisch.
Alte Muster greifen nicht mehr. Neue Wege sind noch nicht sichtbar.
Gerade dann kann das Wissen um diese inneren Mechanismen helfen, eine Sprache für das eigene Erleben zu finden. Eine Sprache, die nicht wertet, sondern spiegelt. Die nicht drängt, sondern begleitet.
Denn:
Zwischen dem, was geschieht – und dem, was wir daraus machen, liegt ein Raum. Dort beginnt Selbstführung. Dort beginnt Resilienz.
„Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“ – Epiktet (und Richard Lazarus hätte wohl zugestimmt)