Tend-and-Befriend – Die besondere Stressreaktion von Frauen

Wenn wir an Stress denken, haben viele von uns ein vertrautes Bild vor Augen: Der Puls rast. Die Muskeln spannen sich an. Alles in uns bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. „Fight or flight“ – so hat es die klassische Stressforschung jahrzehntelang beschrieben. Später kam noch „freeze“ dazu: das Erstarren, wenn weder Angriff noch Flucht möglich ist.

Aber dieses Bild stammt aus Studien, die fast ausschließlich mit männlichen Probanden gemacht wurden. Es zeigt nicht das ganze Spektrum menschlicher Stressreaktionen. Und es greift besonders bei Frauen oft zu kurz.

Eine andere Stressbiologie

Etwa um die Jahrtausendwende stellte die US-amerikanische Psychologin Shelley E. Taylor mit ihrem Forschungsteam eine neue These auf: Frauen reagieren in Stresssituationen häufig anders als Männer. Statt zu kämpfen oder zu fliehen, neigen sie dazu, sich um andere zu kümmern und soziale Bindungen zu stärken. Sie nannten dieses Muster „tend and befriend“ – sich zuwenden und sich verbinden.

Tend: fürsorgliches Verhalten, insbesondere gegenüber Kindern, Partnern, Freundinnen.
Befriend: das Suchen nach Verbündeten, nach Austausch, nach sozialer Sicherheit.

Diese Reaktion ist nicht weniger intelligent oder effektiv als Kampf oder Flucht. Sie ist nur anders. Und zutiefst menschlich.

Biochemie der Verbundenheit

Was geschieht dabei im Körper?

Bei männlich geprägten Stressreaktionen wird vor allem Adrenalin ausgeschüttet. Es führt zu erhöhtem Blutdruck, gesteigerter Muskelspannung, schnellerem Denken – der ganze Organismus rückt auf „Alarm“.

Bei der tend-and-befriend-Reaktion dagegen wird Oxytocin freigesetzt. Dieses Hormon, oft auch als „Bindungshormon“ oder „Kuschelhormon“ bezeichnet, wirkt beruhigend. Es fördert Vertrauen, Empathie und soziale Nähe. Es hilft, sich anderen zuzuwenden, sich nicht zu vereinzeln, sondern in Gemeinschaft zu bleiben.

Dieses Hormon ist kein „Schwächezeichen“. Im Gegenteil: Es fördert kluge, verbindende und nachhaltige Lösungen in Stresssituationen. Frauen, die sich verbinden, wenn der Druck steigt, schaffen soziale Netze, die tragen. Sie schaffen Kontakt statt Konflikt.

Stress als sozialer Verstärker

Wenn eine Frau in einer Krise steht, zeigt sie häufig genau das: Sie fragt nicht nur, wie sie „das schaffen“ soll – sondern auch: Wer ist bei mir?

Sie telefoniert mit einer Freundin, sucht das Gespräch, vernetzt sich. Oder sie kümmert sich – um andere, obwohl es ihr selbst nicht gut geht. Das mag paradox wirken, ist aber eine tief in uns angelegte Strategie: Verbindung als Selbstschutz.

Ein Beispiel: Eine Frau, die beruflich unter Druck steht, ruft ihre Schwester an. Nicht unbedingt, um Lösungen zu finden, sondern um sich zu verankern. Die Stimme der Schwester wird zum inneren Boden. Das Teilen selbst ist bereits Regulation.

Oder: Eine Mutter, die sich in einer inneren Krise befindet, beginnt, sich intensiver um ihre Kinder zu kümmert. Nicht, weil sie verdrängt – sondern weil ihr Organismus intuitiv spürt: Fürsorge schafft Struktur, Sinn und Sicherheit.

Ist das typisch weiblich?

Tend-and-befriend ist kein reines „Frauenprogramm“. Auch Männer können diese Reaktionsweise zeigen. Aber Frauen neigen – biologisch und sozialisiert – stärker dazu. Evolutionär gesehen machte es Sinn: Frauen, die in bedrohlichen Situationen Bindung aufbauen konnten, schützten sich selbst und ihre Nachkommen.

In unserer heutigen Welt zeigt sich diese Tendenz oft in feinen Mustern:

  • In der Art, wie Frauen Gespräche suchen, wenn etwas nicht stimmt.
  • In der intuitiven Zuwendung zu anderen, wenn die eigene Welt wankt.
  • In der Priorisierung von Beziehung und Kontext, statt isolierter Lösungen.

Was heißt das für Frauen in der Lebensmitte?

Gerade Frauen in Übergangsphasen erleben oft eine Mischung aus Stress, innerem Umbau und Neuorientierung. Ob Wechseljahre, beruflicher Wandel, Familienveränderungen oder innere Sinnfragen – der Druck steigt. Aber auch das Bedürfnis nach Verbindung.

Viele Frauen beginnen in solchen Phasen, neue Netzwerke zu knüpfen. Sie suchen den Austausch, gehen in Gruppen, lesen gemeinsam, schreiben sich Mails, hören Podcasts, kommentieren Blogartikel – nicht oberflächlich, sondern tief. Weil sie spüren: Ich bin nicht allein. Und das macht den Unterschied.

Was bedeutet das für Selbstführung und Resilienz?

Tend-and-befriend ist kein Ausweichen, sondern eine Form von Kompetenz. Es ist eine Weise, mit Stress umzugehen, die Bindung als Ressource versteht. Die Stärke nicht in der Abgrenzung sucht, sondern in der Beziehung.

Für Frauen in der Lebensmitte kann das heißen:

  • Sich das eigene Bedürfnis nach Verbindung erlauben. Nicht als Schwäche deuten, sondern als Weisheit. Als Teil eines uralten, körperlich verankerten Selbstschutzmechanismus.
  • In Beziehungen investieren. Nicht nur in Krisenzeiten. Sondern bewusst soziale Netze pflegen, die trägen, spiegeln, erinnern.
  • Für andere da sein – aber nicht um jeden Preis. Fürsorge ist ein Weg der Selbststärkung, solange sie nicht zur Selbstaufgabe wird.
  • Sich selbst als Teil eines größeren Ganzen spüren. Community, Frauenkreise, Gespräche, gemeinsame Rituale: all das ist nicht Beiwerk, sondern Nervensystempflege.

Zum Schluss: Eine neue Definition von Stärke

Vielleicht brauchen wir ein neues Bild von Stresskompetenz. Eines, das nicht nur auf Leistung und Abgrenzung setzt, sondern auf Empathie und Beziehung.

Tend-and-befriend zeigt: In Momenten der Unsicherheit ist es klug, sich zu verbinden.
Nicht nur, weil es sich besser anfühlt – sondern weil es evolutionsbiologisch Sinn ergibt. Und weil es unserer Natur entspricht.

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