Mit dem Dazwischen arbeiten. Das Tetralemma – ein systemisches Selbstcoaching-Tool für innere Klarheit

Es gibt Momente, in denen sich Entscheidungen schwer anfühlen. Nicht, weil wir keine Optionen hätten – sondern weil jede Option zu eng wirkt. Weil weder das Eine noch das Andere wirklich stimmig erscheint. Weil etwas in uns spürt: Da ist noch mehr – ich weiß nur nicht, wie ich es benennen soll.

In solchen Phasen hilft mir ein stilles Werkzeug aus der systemischen Schatzkiste: das Tetralemma.

Ein Strukturmodell, das Denk- und Entscheidungsräume erweitert. Ein Weg, mit dem Dazwischen zu arbeiten, statt es zu übergehen.

Ein Denkraum für Komplexität und inneres Spüren

Das Tetralemma stammt ursprünglich aus der altindischen Logik.

In der systemischen Arbeit wurde es von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer weiterentwickelt – als Möglichkeit, sich aus dem Zwang des Entweder–Oder zu befreien.

Denn genau dort liegt oft die innere Blockade:

Zwei Optionen stehen im Raum – A oder B.

Doch beide wirken begrenzt. Zu klar. Zu entschieden.

Und wir merken: Das Leben ist nicht binär. Nicht eindeutig. Nicht linear.

Das Tetralemma lädt uns ein, mit fünf verschiedenen Positionen zu arbeiten – jede davon steht für eine mögliche Sichtweise, einen inneren Standort.

Die fünf Positionen des Tetralemmas

Beispiel: Ich bleibe in der gewohnten beruflichen Rolle.

Beispiel: Ich verlasse das Bekannte und orientiere mich neu.

Vielleicht gibt es Aspekte, die sich kombinieren lassen. Ein Dazwischen. Ein Sowohl–als–auch.

Vielleicht passt weder A noch B wirklich – und das eigentliche Thema liegt woanders.

Diese Position lädt das Unbekannte ein. Die Leerstelle. Die Möglichkeit, dass sich etwas Unerwartetes zeigt.

✨ Anwendung: So nutzt du das Tetralemma für dich allein

Du brauchst kein Seminar, keinen Coach, keine Gruppe.

Das Tetralemma kannst du allein, im eigenen Rhythmus und in deinem Tempo anwenden. Es wirkt nicht über Argumente, sondern über innere Erfahrung.

🕊 Vorbereitung

• Nimm dir etwas ungestörte Zeit (ca. 30–45 Minuten).

• Lege fünf Zettel mit den Positionen A, B, Beides, Keines, Etwas ganz anderes bereit.

• Optional: ein Notizbuch oder leere Seiten.

• Und vor allem: Offenheit, nichts sofort entscheiden zu müssen.

🌿 1. Formuliere dein Anliegen

Was beschäftigt dich gerade? Wo fühlst du inneres Ziehen in verschiedene Richtungen? Formuliere ein Dilemma oder eine Fragestellung mit zwei Polen:

„Soll ich diesen beruflichen Weg weitergehen – oder etwas völlig Neues wagen?“
„Will ich mich weiter anpassen – oder abgrenzen?“
„Halte ich an dieser Rolle fest – oder lasse ich los?“

Diese zwei Pole werden Position A und B.

🌿 2. Lege die fünf Positionen aus

Markiere die Positionen im Raum – mit Zetteln oder innerlich visualisiert. Geh sie nacheinander durch – entweder im Gehen oder im stillen Nachspüren.

Wichtig: Es geht nicht ums Denken, sondern ums Spüren.
Jede Position ist ein innerer Ort. Eine Qualität. Ein Blickwinkel.

🌿 3. Erkunde jede Position mit deinem ganzen System

Frage dich auf jedem Platz:

  • Was denke ich hier?
  • Wie fühlt es sich an – im Körper, im Bauch, im Herzen, Schultern, Beine?
  • Was wird möglich – und was fehlt?
  • Welche inneren Sätze tauchen auf?
  • Welche Bewegung entsteht – oder wo entsteht Starre?

Du musst nichts bewerten. Nur wahrnehmen. Manche Positionen werden klar. Andere verwirrend. Auch das ist Teil des Prozesses.

🌿 4. Beobachte, was sich verändert

Wenn du alle Positionen gespürt hast, begib dich in eine Meta-Position. Ein Ort des Überblicks. Vielleicht ein Stuhl am Rand, vielleicht eine innere Haltung von Abstand und Weite.

Stelle dir Fragen wie:

  • Was hat sich gezeigt, was ich vorher nicht gesehen habe?
  • Welche Position hat mir Raum gegeben?
  • Wo bin ich in Kontakt mit mir gekommen – und wo bin ich ausgewichen?
  • Was darf offen bleiben?

Hier entsteht oft keine Lösung – aber eine neue Klarheit. Ein inneres Aufatmen. Manchmal nur ein Wort. Manchmal eine Richtung.

🌾 Warum das Tetralemma Resilienz stärkt

Weil es dich lehrt, nicht vorschnell zu entscheiden.

Weil es dir zeigt, dass es immer mehr als zwei Möglichkeiten gibt.

Weil es dich in Kontakt bringt mit deinen inneren Tendenzen – auch den widersprüchlichen.

Weil es Ambiguität (Mehrdeutigkeit) nicht als Störung, sondern als Ressource begreift.

Und weil es dich lehrt, im Dazwischen zu bleibennicht als Schwäche, sondern als Form von innerer Stärke.

📌 Für deine Schatzkiste:

Das Tetralemma ist kein Werkzeug für schnelle Antworten.

Es ist ein Denk- und Spürraum. Ein Übungsfeld für Beweglichkeit, Tiefe und Selbstführung. Ein systemischer Ort, an dem du dich immer wieder neu befragen darfst – leise, klar, offen. Ohne dich festlegen zu müssen. Und vielleicht liegt genau darin die eigentliche Kraft:

nicht schnell zu wissen – sondern in eine Antwort hinein zu fühlen.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert