Deine Krise verstehen – wenn du dich selbst nicht mehr wiedererkennst
Es gibt Phasen im Leben, da passt nichts mehr so recht. Nicht die Rollen, die du trägst. Nicht die Routinen, die du pflegst. Nicht die Gedanken, die dich durch den Tag begleiten. Und vielleicht auch nicht mehr das Bild, das du von dir selbst hast. Du funktionierst noch irgendwie – aber innen drin ist alles leer, unklar, widersprüchlich.
Wenn du das hier liest, bist du vielleicht gerade mittendrin in einer solchen Phase. In einer Zeit, in der sich alles anders anfühlt – aber niemand sieht etwas. In der du Fragen stellst, für die es keine schnellen Antworten gibt. In der du dich fragst, was mit dir los ist. Ob du übertreibst. Oder ob das, was du spürst, vielleicht einfach nur eine Krise ist.
In diesem Artikel geht es genau darum: Was ist eine Krise? Wie entsteht sie? Warum betrifft sie gerade Frauen in der Lebensmitte so oft? Und was hilft, wenn man sich selbst nicht mehr spürt?
Was ist eine Krise – wirklich?
In der Alltagssprache wird der Begriff „Krise“ oft für alles verwendet, was schwierig oder unangenehm ist. Aber in der psychologischen Definition hat eine Krise eine sehr konkrete Bedeutung. Und sie beginnt nicht unbedingt laut oder dramatisch. Oft ist sie leise, schleichend, kaum greifbar. Aber in ihrer Wirkung tief.
„Eine psychische Krise oder eine Krisensituation ist … ein durch ein überraschendes Ereignis oder akutes Geschehen hervorgerufener schmerzhafter seelischer Zustand oder Konflikt innerhalb einer Person (innerpsychische Krise) oder zwischen mehreren beteiligten Personen.
Sie entsteht, wenn sich eine Person oder eine Gruppe Hindernissen auf dem Weg zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder bei der Alltagsbewältigung gegenübersieht und diese nicht mit den gewohnten Problemlösungsmethoden bewältigen kann.
Eine Krise äußert sich als plötzliche oder fortschreitende Verengung der Wahrnehmung, der Wertesysteme sowie der Handlungs- und Problemlösungsfähigkeiten. Sie stellt bisherige Erfahrungen, Normen, Ziele und Werte in Frage und hat oft für die betroffene Person einen bedrohlichen Charakter.
Sie ist zeitlich gegrenzt.“
Lexikon – Psychologen.at https://www.psychologen.at/lexikon/krise; 10.3.2024
In einfachen Worten: In deinem Leben oder Alltag passiert etwas, das deine Glaubenssätze und Überzeugungen derart erschüttert, sodass du im Moment bzw. in dieser Phase nicht mehr wie gewohnt denken, fühlen, handeln und voranschreiten kannst.
Du denkst anders. Du fühlst anders. Du handelst anders – oder gar nicht mehr. Und oft hast du das Gefühl: „So war ich doch früher nicht.“
Wann wird ein Ereignis zur Krise?
Nicht jedes schwierige Erlebnis ist automatisch eine Krise. Ein und derselbe Auslöser – etwa eine Kündigung, eine Trennung oder eine Krankheit – kann von zwei Menschen ganz unterschiedlich erlebt werden. Der eine kommt gut damit klar. Die andere stürzt in eine tiefe Erschütterung.
Das liegt daran, dass Stressoren nicht objektiv wirken. Sie treffen auf deine Lebensgeschichte, deine aktuellen Belastungen, deinen körperlichen Zustand, deine inneren Ressourcen. Was dich heute umwirft, hättest du vielleicht vor fünf Jahren gut bewältigen können – und umgekehrt.
Du kannst dir eine Krise vorstellen wie eine Mischung aus:
- einem äußeren Auslöser,
- einer inneren Erschütterung,
- und dem Verlust deiner gewohnten und bewährten Lösungswege.
Wenn du dich also fragst: „Warum trifft mich das so sehr? Warum kann ich gerade nicht einfach weitermachen?“ – dann ist das keine Schwäche. Sondern ein Zeichen dafür, dass dein System gerade neu sortieren muss.
Drei Ebenen von Krisenerleben – nach Linda Graham
Die US-amerikanische Therapeutin Linda Graham unterscheidet drei Arten, wie Menschen Krisen erleben können:
- Leichtes Ungleichgewicht: Du bist irritiert, kurz aus dem Tritt, aber du findest rasch wieder in deine Mitte. Ein Spaziergang, eine Pause, ein gutes Gespräch helfen schon.
- Stärkere Verunsicherung: Du verlierst dein inneres Gleichgewicht über längere Zeit. Gedanken kreisen, Emotionen schwanken. Du fühlst dich fremd im eigenen Leben. Hier braucht es bewusste Reflexion, Gespräche, manchmal Begleitung von außen.
- Tiefe Erschütterung: Du bist massiv belastet oder konfrontiert mit alten, unverarbeiteten Themen. Du kannst dich nicht mehr selbst regulieren. Alles wirkt eng, grau, schwer. In dieser Phase ist professionelle Hilfe oft notwendig.
(aus Linda Graham – “Resilienz – Wirkungsvolle Übungen, um nach Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Katastrophen wieder ins Gleichgewicht zu kommen” (Kap. 1))
Wie sich eine Krise anfühlt – und warum sie so schwer zu fassen ist
Viele Frauen, die sich in einer Krise befinden, beschreiben das Erleben so:
- „Ich funktioniere noch, aber ich bin nicht mehr ich.“
- „Ich bin dauernd erschöpft, aber ich weiß gar nicht wovon.“
- „Ich bin ständig angespannt, gereizt oder traurig – ohne erkennbaren Grund.“
- „Ich zweifle an allem: meinem Job, meiner Beziehung, meinem Lebensentwurf.“
- „Ich möchte mich einfach nur für ein paar Wochen ausklinken. Aber es geht nicht.“
Krisen fühlen sich oft paradox an. Du weißt, dass etwas nicht stimmt – aber du kannst es nicht benennen. Du versuchst weiterzumachen – aber alles kostet Kraft. Du willst verstanden werden – aber du kannst kaum darüber sprechen.
Warum Frauen zwischen 40 und 60 besonders oft betroffen sind
In dieser Lebensphase verändert sich vieles gleichzeitig – sichtbar und unsichtbar:
- Der Körper stellt sich um (Hormone, Energie, Schlaf, Gewicht)
- Die Eltern brauchen Unterstützung oder sterben
- Die Kinder gehen aus dem Haus oder machen Schwierigkeiten
- Die Partnerschaft wird leiser, konflikthafter oder endet
- Der Beruf verlangt viel, gibt aber immer weniger Sinn zurück
- Und die Fragen nach der eigenen Lebensspur werden lauter: „War das schon alles?“ oder *“Was will ich mit dem Rest meiner Zeit anfangen?“
Diese Umbrüche kommen selten allein. Sie überlagern sich. Sie vermischen sich. Und sie erzeugen ein Gefühl von „Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist“.
Was in einer Krise hilft – und was nicht
Hilfreich kann sein:
- Innehalten, statt immer weiter funktionieren
- Schreiben, sprechen, nachdenken – auch wenn keine Lösung in Sicht ist
- Bewegung, Natur, Berührung, Musik
- Gespräche mit Menschen, die dich nicht bewerten
- Sanfte Struktur: Tagesrhythmen, Rituale, Routinen
- Begleitung durch Coaching, Therapie oder Mentoring
Weniger hilfreich ist:
- So tun, als sei alles wie immer
- Sich selbst für das „Nicht-Funktionieren“ verurteilen
- Die Krise wegerklären oder zerreden
- Schnelle Antworten erzwingen
- Sich vergleichen oder „reparieren“ wollen
Und jetzt?
Wenn du dich in dieser Beschreibung wiederfindest, dann heißt das nicht, dass du „kaputt“ bist. Es heißt: Du bist in einer Phase, in der sich etwas in dir neu sortieren will. Vielleicht weißt du noch nicht, was entstehen wird. Vielleicht hast du nur das Gefühl, dass etwas Altes nicht mehr stimmt.
Krise bedeutet nicht Scheitern. Krise bedeutet: Du spürst dich wieder. Und das kann der Anfang von etwas Wichtigem sein.
Zum Nachspüren
- Was funktioniert gerade nicht mehr, obwohl du es immer getan hast?
- Welche Frage vermeidest du – vielleicht schon länger?
- Was brauchst du jetzt, damit du dich selbst wieder spüren kannst?
Wenn du magst, mach dir eine Tasse Tee, nimm dir einen Zettel und ein paar Minuten nur für dich.
Du brauchst keine perfekte Antwort. Nur ein ehrliches Wort.
Denn manchmal beginnt etwas Neues mit einem einzigen, klaren Gedanken:
So geht es nicht weiter. Aber vielleicht geht es anders. Und zwar …